Trierischer Volksfreund

Töne der Siebziger

Von unserem Mitarbeiter HARALD LOCH

Kai Sichtermann, Jens Johler und Christian Stahl: "Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der ,Ton Steine Scherben‘".

Wenn man von der Band spricht, fallen die Begriffe Mythos und Kult. Auf jeden Fall war "Ton Steine Scherben" eine Rock-Gruppe, die Geschichte gemacht hat.

"Macht kaputt, was euch kaputtmacht!" war der erste Song, mit dem die erfolgreichste professionelle "non-profit-band" der Bundesrepublik 1970 startete und zu dem legendären Ruf Kreuzbergs beitrug, der immer eine Mischung aus Politik, Bohème, Joint-Hedonismus und Gewalt war. Auf dem "Festival der Liebe" mit Jimi Hendrix auf Fehmarn ging es los, und es endete am 6. März 1985 mit einem Wahlkampfkonzert für die Grünen in Saarbrücken.

Dazwischen lagen viele Konzerte in Berlin und in der Provinz, Solidarität mit der PL/PI (wer weiß noch, dass sich hinter diesem Kürzel eine kleine Gruppe "Proletarische Linke/Parteiinitiative" verbarg?), mit dem sandinistischen Nicaragua oder mit Brokdorf-Angeklagten, aber auch Straßentheater-Festivals oder ein Auftritt 1976 in der Essener Gruga-Halle zusammen mit Wolf Biermann, der gerade aus der DDR ausgebürgert worden war.

Kai Sichtermann, einer der Autoren des jetzt zum 30. Gründungstag der Band erschienenen Szene-Memorials "Keine Macht für Niemand", war von Beginn an der Bassist der "Ton Steine Scherben", Jens Johler, Schauspieler und erfolgreicher Autor ("Der Falsche"), begleitete die "Scherben" vom ersten Tag an, und Christian Stahl ist Journalist bei Hörfunk und Fernsehen des SFB. Alle zusammen haben ein in dieser Szene nicht einfach zu recherchierendes Buch geschrieben, das den Ton der siebziger Jahre trifft, das Umfeld zwischen Paul ("Che") Breitner bis Otto Schily (damals noch "Grüner") einbezieht und vor allem eine Art Sittengeschichte einer künstlerischen Großfamilie darstellt.

"Die Scherben" waren nicht die Erfinder kommunardischen Zusammenlebens, sie waren nicht die Entdecker der Freuden, die Hanf bereiten kann, sie waren nicht die ersten, die mit Musik Politik machen wollten und sind nicht die letzten, die an dem Widerspruch des "Keine Macht für Niemand", also auch nicht für Plattenproduzenten, und den eigenen Konsumansprüchen zerbrechen.

Der "Frontman" der Ton Steine Scherben war Rio Reiser. Während der 15 Jahre künstlerischer Lebenszeit der Band war er für Gesang, Gitarre und Klavier oder Keybord verantwortlich. Zusammen mit seinen Brüdern Peter und Gert Möbius - er selbst hatte seinen Geburtsnamen Ralph Möbius gegen seinen Künstlernamen getauscht - gründete er das "Hoffmann Comic Theater" für agitatorische Bühnenkunst. Aus dessen Musiktruppe gingen die "Scherben" hervor.

Rio Reiser ist 1996 gestorben. Die anderen sind nach der Auflösung der Band im Jahre 1985 in alle Winde zerstreut. In der Nacht zum 1. Mai 2000 haben sich viele von ihnen in der Berliner Volksbühne (wo sonst?) anlässlich der "Rio-Reiser-Nacht" wieder getroffen. Dazu hundert aus der alten Berliner Hausbesetzer-Szene, der Anti-AKW-Bewegung, aus Friedensgruppen. Ein Konzert mit früheren Bandmitgliedern "Neues Glas aus alten Scherben" ließ dann etwas von recycelter Demo-Stimmung aufkommen.

Das Buch über Ton Steine Scherben ist jedenfalls weit mehr als Nostalgie: es ist eine Kulturgeschichte über eine Band in Berlin, die schon vor der Vereinigung zu Ende war, die aber in mehr als nur einer kleinen Nische unserer Gesellschaft der Erprobung von Lebensformen, der musikalischen Gestaltung eines immer auch politischen Lebensgfühls und dem Lustgewinn durch öffentliches Ärgernis diente.

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