Der Tagesspiegel
Seite W5, Literatur, Nr. 15 125 / Sonntag, 18. Dezember 1994
Richtig im Falschen
Jens Johler führt Liebesprojekte der 68er ad absurdum
Arabella ist sich ganz sicher: "Er ist der Richtige nicht."Jene junge Dame der Wiener Gesellschaft, die Hofmannsthal ersonnen und Richard Strauss zu musikalischem Leben erweckt hat, weiß auch, warum sie Matteo nicht will: "Der Richtige - wenn's einen gibt für mich auf dieser Welt - der wird einmal dastehen, da vor mir, und keine Zweifel werden sein." Matteo aber ist einfach zuwenig gestandenes Mannsbild.
Auch Benjamin, der Held in Jens Johlers neuem Roman, ist beileibe nicht der Richtige für Antonia, was man schon daran sieht, daß er im entscheidenden Moment nicht vor, sondern hinter ihr steht und auf die Frage, wer es sei, der ihr da die Augen zuhält, auch noch prompt versichert: "der Falsche". Recht hat er, aber das macht die Sache nicht klarer. Zeiten sind nämlich angebrochen - die Handlung spielt 1968 -, in denen man ohnehin überzeugt ist, "im Falschen" einer "verdinglichten Warenwelt" zu leben. "Richtiges" ist da nur als, "Aufscheinen", um nicht zu sagen: "Vorschein" eines fernen Prinzips Hoffnung denkbar. Doch das hat natürlich auch wieder seine Vorteile.
Benjamin jedenfalls, so naiv und ahnungslos er auch wirken mag, ist denn auch als gewiefter Dialektiker längst auf den Dreh gekommen, daß, wo alles falsch ist, auch das Richtige nicht mehr zu finden ist. Wenn es sich aber so verhält, könnte dann nicht er, "der Falsche", sich in Ermangelung einer Alternative irgendwann als "der Richtige" entpuppen? Wird nicht ohnedies "das Falsche" endlich richtig, wenn es nur lang genug währt? Man sieht, Benjamin läßt bei Antonia nicht locker. Diese wiederum hat nicht die Instinktsicherheit von Arabella. Schließlich befindet man sich unter 68ern, die bekanntlichnicht ihrer inneren Stimme folgen, sondern einem Über-Ich aus Angelesenem und Aufgeschnapptem. So dauert es denn auch geraume Weile, bis die Herzen auf den rechten Fleck und an die richtigen Partner gelangen. Erst nach vielem Hin und Her kommt Antonia an den zwanzig Jahre älteren Bernhard Engel, der übrigens auf verdächtige Weise dem einst hochverehrten Hannoveraner Psychologieprofessor Peter Brückner ähnelt, auch wenn dessen damalige Wohnung in der Yorkstraße am Rande der Eilenriede nach Göttingen verlegt wird. Benjamin wiederum kriegt eine Christine. Die Geschichte zweier Menschen, die immer wieder neue Anläufe unternehmen, um eine "sexuell emanzipierte Beziehung" aufzubauen - wider besseres Wissen ihres Unbewußten, das sie zur verpönten "Symbiose" mit "bürgerlichen" Vorstellungen von Treue und Verläßlichkeit drängt - bildet den Kern der Handlung. Das Geschehen erstreckt sich über mehrere Monate. Zeit genug, daß neben dem Auf und Ab von erotischer Illusionsbildung und deren Zerstörung auch noch von Zeitsrhriften für "linke Theorie", von Wohnkommunen und Arbeitskollektiven sowie von dem die Rede ist, was alle jungen Leute betreiben, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen: studieren. Auf diese Weise fährt der Autor fort, Material für eine narrative Mentalitätsgeschichte der 68er zu liefern, was er schon mit seiner letzten Veröffentlichung tat, den 1993 erschienenen Erzählungen "Ein Essen bei Viktoria". Wenn Jens Johler dem Leser hier erneut ein großes Lesevergnügen beschert, so liegt das daran, daß er gründlich vergaß, was er einst bei seinen linken Meisterdenkern gelernt hat, und statt hochgestemmten Reflexionsniveaus geradlinig erzählte Satire liefert. Den Ton munterer Plauderei trifft er sogar noch besser als in seinen vorangegangenen kürzeren Texten, weil er inzwischen seinen Hang zu Umständlichkeit und Pointenseligkeit, die bisweilen in Kalaueritis ausartete, weitgehend unter Kontrolle hält. Die große Abrechnungsszene mit Antonia ließe sich allerdings dramatischer denken. Auch der Schluß wirkt etwas lahm, obgleich er damit natürlich Benjamins Temperament entspricht. Dafür werden die Protagonisten und ihre Projekte vom Neuen Menschen und dessen "revolutionärem Bewußtsein" arnüsant ad absurdum geführt - nicht zuletzt mit Hilfe des 68er O-Tons, den Johler geschickt einzusetzen vermag um die wissenschaftsgestützte intellektuelle und emotionale Hilflosigkeit der Linksbewegten mit leiser Ironie zu beleuchten.
TILMAN KRAUSE