Süddeutsche Zeitung
9.11.94
Der Neue und der Alte Mensch
Jens Johlers Roman "Der Falsche"
Was ist los mit den 68ern? Während die 68er mit Macht gegen sie anrennen und die Politiker sie immer noch gern als Sündenböcke für die finstersten Dinge, Werteverfall und Gewalt, aus den Schubladen holen, finden die Veteranen von damals, wenn sie sich an den Schreibtisch setzen, in ihrer Erinnerung nur noch Stoff für Komödien. Peter Schneider zum Beispiel, und jetzt Jens Johler.In seinem neuen Buch gibt, es nur eine Jahreszahl: 1968. Was erzählt wird, rankt sich um dieses Erkennungsmal herum, in einem Zeitraum von mehr als sechs Jahren. Der Ich-Erzähler Benjamin erfährt den der Zeit entsprechenden Lebensknick: zusammen mit der schönen Antonia bricht er seine Theaterkarriere ab und zieht in die "Frontstadt Berlin", um die Revolution nicht zu versäumen. Nun wird der linke Schriftenkanon gebüffelt, in WGs diskutiert, kollektiv Gruppenarbeit geleistet, immanente Kritik geübt, eine Zeitschrift ediert, mit Pflastersteinen demonstriert, sexuelle Befreiung praktiziert. Beziehungskisten flottieren frei zwischen den in Funktionsräume aufgeteilten Altbauwohungen. Viel von dem, was Johlers Erinnerungsroman aus jenen Jahren auferstehen läßt, klingt wie naives Kinderspiel; wie Verkleidung wirkt das Soziologen- und Psychologenchinesisch. Strohtrocken bröseln die Phrasen, durch Schrägdruck hervortretend: das politische Bewußtsein, der Kontakt mit der Basis, die Herrschenden, das System und die Strukturen, die Genossinnen und Genossen, der bewaffnete Aufstand der Massen. Schon wirft, die Psychowelle die ersten Selbsterfahrungsblasen, die heute noch unser Leben verdünnen, indem wir ein Stück weit alles aufarbeiten und damit umgehen und die Aggressionen rauslassen. Im Fortgang der Bewegung melden sich dann noch Frauen und Ökologie zu Wort und beherrschen in Form von lila Latzhosen die Szene.
Der Gefühlsdumme
Die Kluft zwischen hochtrabender Theorie und jämmerlicher Wirklichkeit sorgt für beträchtliche Komik in Johlers Buch. Benjamin ist einer, der die Theorie ernst nimmt und gerne ein Neuer Mensch sein möchte, auch und gerade in seiner Beziehung zum Klasseweib Antonia. Der Neue Mensch, so verlangt die Theorie, darf weder symbiotisch leben noch Besitzansprüche erheben, Eifersucht ist, nicht erlaubt, mit Wohlwollen hat er danebenzustehen, wenn der Partnerin mit einem Dritten die "Ideallinie des freien, des kommunistischen Orgasmus gelingt". Aus der Distanz von mehr als zwanzig Jahren klingt das alles rührend komisch, doch kann der leichte Erzählton nicht darüber hinwegtäuschen, daß es damals enorme Verletzungen gegeben hat - denn während Benjamin sich redlich müht, seine Gefühle der sexuellen Revolution anzupassen, befriedigen andere hinter den Kulissen ihrer Phrasen den Alten Menschen ungeniert, herrschen, besitzen, beuten aus, wie es ihnen paßt. Der Neue Mensch steht da als der Gelackmeierte. "Gefühlsdumm", heißt es immer wieder. Daß Benjamin nicht, um Antonia kämpft, trägt ihm Verachtung ein, wer kann den Neuen Menschen schon von einem Schlappschwanz unterscheiden.
Wir kennen Benjamin schon aus Johlers erstem Buch Ein Essen bei Viktoria. Er ist ganz offensichtlich autobiographisch eingefärbt und alles andere als ein Held. "Er hatte nicht getan, was er schon immer wollte, sondern erkennen müssen, daß er schon immer nichts gewollt hatte." Der Mangel an Entschiedenheit, das Mitlaufen und gottergebene Hinnehmen scheint Benjamins Markenzeichen zu sein, auch hier in diesem neuen Buch; ihm fehlt, das weiß er selbst, der Biß, der "Killerinstinkt". Er plaudert gern beim Erzählen und sieht das kuriose Treiben von damals lieber von der komischen Seite, als öfter mal entschieden und tiefergehend zuzubeißen. Eines zeigt er jedoch unmißverständlich: daß beim Versuch, die eigene Natur theoretisch zu vergewaltigen, das Menschliche immer wieder durchbricht, wie Löwenzahn durch den Asphalt. Nicht, Benjamin ist der Falsche für Antonia, auch nicht unbedingt Antonia die Falsche für Benjamin, sondern die radikale Theorie ist das Falsche für die Leute, die damit zu leben versuchen.
Liebe läßt sich nicht demonstrieren, genausowenig wie die Kunst. Hinter den spritzigen Dialogen, den hübschen Paradoxa, der schön gefeilten Alltagssprache dieses Romans findet, nicht ohne sympathische Selbstironie, so etwas wie eine Abrechnung statt, die sicherlich nicht jedem behagt, der noch von 68 zehrt. Sie ist freilich auch nicht alles, was man zu jenen Jahren sagen kann. Für die Jüngeren werden die Verirrungen der Väter (und Mütter) höchst amüsant zu lesen sein.
EVA LEIPPRAND