Rock News

Keine Macht für Niemand

von Kai Sichtermann, Jens Johler und Christian Stahl Schwarzkopf + Schwarzkopf Verlag

Das Jahr 2000 ist für die Geschichte der Deutschen Rockmusik ein Jahr zum erinnern und nachdenken.

Vor 30 Jahren gründete sich die richtungsweisende Band Ton Steine Scherben, die - mal abgesehen von den Boots mit Sinn des Lebens - die ersten Rocksongs in Deutscher Sprache sangen und über ihre aktive Zeit hinaus als Kult glorifiziert und mystifiziert wurden.

Die beiden Protagonisten dieser Band - Rio Reiser und R.P.S. Lanrue - feierten im Januar ihren jeweils 50. Geburtstag - der eine in Portugal, der andere im Jenseits.

Anlass genug also, über Pioniere & Personen, Werk & Wirken, Impulse & Interpretationen zu diskutieren. Den Anspruch einer kritischen Reflektion hatten die Autoren Kai Sichtermann (Gründungsmitglied und Bassist bei den Scherben), Jens Johler und Christian Stahl scheinbar nicht, als sie ihr Buch Keine Macht für Niemand - die Geschichte der Ton Steine Scherben im Mai veröffentlichten (erschienen beim Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf). Auf 300 Seiten finden sich vielmehr Innenansichten einer Gruppe, die sich einst dem gescheiterten Traum hingab, zusammen zu arbeiten, zu leben und zu lieben. So erfährt der Leser neben Klatsch & Tratsch einige Anekdoten über LP-Entstehungsgeschichten, Tour-Alltag oder wer-mit-wem-Stories. Zu viele Fragen bleiben offen, zu viele Lücken oder (bewusste?) Kürzungen verklären den Blick zurück. Viele Fotos, darunter ein paar seltene, stillen die Neugier.

In Interviews kommen Zeitzeugen zu Wort: Gert Möbius ("Der Bruder"), Nikel Pallat ("Der Versorger"), John Banse ("Der Jünger"), Jörg Schlotterer ("Der Berater"), Funky K. Götzner "Der Drummer"), Angie Olbrich ("Die Scherbenbraut"), Hannes Eyber ("Scherbe auf Zeit"), Misha Schöneberg ("Der Freund"), Martin Paul ("Der Keyboarder") und Claudia Roth ("Die Grüne"). Manche Äußerungen haben in ihrer Gesamtkonzentration den Eindruck einer Abrechnung, wobei natürlich Redundanz zum Multiplikator wird. Deutlich wird die Zerrissenheit von Rio Reiser, der sich wie ein breiter roter Faden durch das Buch zieht, obwohl sie ihn doch gerne abschütteln möchten. Keine Macht für Niemand ist ein widersprüchliches Buch, das auf eine kritische Leserschaft stößt und dort kontrovers disputiert wird. Es ist zur gleichen Zeit ein Buch, das sehr viel über eine Deutsche Rockband und deren Umfeld aussagt. Ein Buch, das sich lohnt!

Musikalisch findet eine Art "Inkarnation" in Form von Neues Glas aus alten Scherben (Scherben- und Reiser-Musiker unterschiedlicher Generationen) statt, begleitet von Freunden und Feinden, Skeptikern und Enthusiasten. Ein durchaus zu begrüßender Effekt ist zumindest, dass Ton Steine Scherben und Rio Reiser mediale Aufmerksamkeit bekommen, auch wenn hier manche Stelle vom Saulus zum Paulus mutiert. Viel wichtiger ist die Weitergabe von Impulsen, vielleicht auch Idealen, an die heutige Jugend.

Eine andere Art, mit musikalischen Vorbildern umzugehen, präsentiert die Bremer Band Die Flut, welche seit 1996 Reiser-Songs mit klassischen Instrumenten interpretiert. Ihre erste 5-Track-CD mit dem Programmtitel In Memoriam - Rio Reiser setzt das um, was Rio Reiser immer gefordert und gefördert hat: Seine Songs benutzen, sich damit auseinandersetzen, für sich selbst was draus machen und Eigendynamik entwickeln. Die ersten Hörerlebnisse sind gewöhnungsbedürftig, aber vor allem eigenständig und ehrlich.

Man darf gespannt sein, was uns dieses Jahr noch vertont, versteint und verscherbelt wird auf unserer Reiserroute ...

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