Knigge, Castiglione und die Ehrlichkeit

Erschienen in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik
Berlin 1991
ISSN 0171-9289

Grußlos und ohne sich vorzustellen, schon gar ohne Blumen für die Gastgeberin, platzt er in eine Abendgesellschaft hinein, greift sich mit bloßen Fingern ein Stück Fleisch von irgendeinem Teller, verschüttet Rotwein auf dem Teppichboden über der zuvor dort ausgetretenen Zigarette und sagt, da ihm nun einmal danach ist, den Anwesenden allerlei Wahrheiten ins Gesicht. Anschließend verschwindet er so, wie er gekommen ist. Natürlich ohne sich zu bedanken.

Vielleicht liefert er auch nur einen Ausschnitt dieses Repertoires oder eine andere Variante, dann sind wir dieser Kerl womöglich selbst. Aber wer immer es auch sein mag, und wie er es nun im einzelnen gebracht hat, wir sind imstande, sein Verhalten mit dem Hinweis darauf zu entschuldigen, er habe sich wenigstens "nicht verstellt". Er habe sich eben so verhalten, wie er sei. Und so sei er nunmal. Er sei zwar nicht höflich, aber er sei immerhin ehrlich. Als wäre Ehrlichkeit ein Freibrief oder eine Legitimation für schlechtes Benehmen.

Tatsächlich ist sie das. Ehrlichkeit ist der Hammer, mit dem die Jugend (seit einigen Jahrzehnten) hergebrachte Verhaltensformen zerschlägt, nicht um erstarrte Formen durch neue zu ersetzen, sondern um in einer linkischen Formlosigkeit zu verharren. Das gilt seit 1968 auch für die "reifere" Jugend. Wir haben es nicht gelernt, uns zu benehmen, oder wenn, dann haben wir - "chassez le flic dans votre tete" - uns erfolgreich darum bemüht, das Gelernte zu vergessen; im Namen der "Ehrlichkeit", der "Echtheit", der "Spontaneität", oder wie immer die Begriffe für das, was "aus dem Bauch" kommt, lauten mögen.

Das Merkwürdige ist nur: die Formlosigkeit macht keinen Spaß. Sie ist langweilig. Oder brutal. Sie verdirbt jedes Spiel. Solange es noch Regeln gibt, kann Regelverletzung amüsant sein, aber danach? Der Sieg des "Bauches" über den "Kopf" ist immer ein Pyrrhussieg. Dr. Jekyll ist interessant, weil Mr. Hyde in ihm steckt - der losgelassene Mr. Hyde ist nur ein Ennui. Mit anderen Worten: es bekäme der "ehrlichen" Formlosigkeit gut, sich wieder ein Kleid anzuziehen, sich eine Form zu geben -, selbst auf die Gefahr hin, daß diese Form mit dem Verdict der "Förmlichkeit", der "Unechtheit" oder gar der "Verlogenheit" leben müßte. Warum sollte die schöne Lüge - zumal in Gesellschaft oder "auf dem Parkett" - nicht besser sein als eine häßliche Wahrheit? Man kann jedenfalls, das soll hier am Beispiel des höfischen Verhaltens gezeigt werden, durchaus mit der Lüge leben, ohne die Wahrheit zu verraten; und man gerät, das zeigt die bürgerliche Kritik daran, sehr schnell ins Abseits der Gesellschaft, wenn man es allzu wörtlich mit der Wahrheit nimmt.

*

Die berühmteste Schilderung höfischen Verhaltens bezieht sich auf einen der Renaissancehöfe Italiens, den Hof von Urbino. Dort spielt die Handlung des Buches von Baldesar Castiglione über den Hofmann, Il Cortegiano, das im Jahre 1528 erschien.

Castiglione schildert vier gesellige Abende, an denen in nicht allzu großer Runde über ein bestimmtes Thema gesprochen werden soll. Es ist ein Gesellschaftsspiel oder - für den Leser - eine Art höfische Talkshow. Das Thema, auf das sich die Anwesenden einigen, ist die Frage nach dem vollendeten Hofmann.

Es ist eine amüsante Show. Es wird oft und gern gelacht bei diesem Spiel. Das kommt zum Beispiel dort zum Ausdruck, wo eine der Hofdamen, Signora Emilia, die Aufgabe erhält, denjenigen auszuwählen, der mit der Schilderung eines idealen Hofmannes beginnen soll:

"Signora Emilia sagte lachend zum Grafen Ludovico da Canossa:`Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, werdet also Ihr, Graf, derjenige sein, der diese Aufgabe in der Weise auszuführen hat, wie Signor Federico es gesagt hat; und zwar nicht, weil Ihr uns ein so hinreichend guter Hofmann zu sein scheint, der weiß, was einem solchen angemessen ist, sondern weil das Spiel, wenn Ihr, wie wir von Euch erwarten, von allem das Gegenteil sagt, um so schöner sein wird... Denn wenn ein anderer, der mehr als Ihr davon verstünde, diese Aufgabe hätte, könnte man ihm in nichts widersprechen, da er ja die Wahrheit sagte; und so würde das Spiel langweilig werden.' Der Graf antwortete sofort: `Signora, die Gefahr, daß dem Vertreter der Wahrheit der Widerspruch fehlte, würde nicht bestehen, da Ihr ja anwesend seid;' - und nachdem man über diese Antwort lebhaft gelacht hatte, fuhr er fort...etc."

So geht es zu am Hofe von Urbino. Man schmeichelt, man lacht, man scherzt, man spottet, man fordert den anderen heraus. Die unverblümte Wahrheit sei langweilig, sagt Signora Emilia, amüsant werde sie erst im Zusammenspiel mit ihrem Gegenteil. Was ist das Gegenteil der Wahrheit? Die Lüge. Ein Leben ohne Lüge wäre den Hofleuten zu eintönig. Das wird noch deutlicher am zweiten Abend, wenn Signore Federico Fregoso so etwas wie ein Plädoyer für die Lüge hält:

"Denn da das Böse dem Guten und das Gute dem Bösen entgegengesetzt ist, ist es gleichsam notwendig, daß das eine durch den Gegensatz und ein gewisses Gleichgewicht das andere stützt und stärkt, und wenn das eine abnimmt oder wächst, nimmt auch das andere ab oder zu, weil nichts ohne seinen Gegensatz besteht. Wer weiß nicht, daß es in der Welt nicht die Gerechtigkeit gäbe, wenn kein Unrecht wäre? Und nicht die Großmut ohne kleinmütige Herzen? Die Enthaltsamkeit ohne die Unzüchtigkeit? Die Gesundheit ohne die Krankheit?" Und eben auch: "Die Wahrheit ohne die Lüge?"(107)

Das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, ihre gegenseitige Stützung, scheint so etwas wie eine Basis anzugeben, die die Verhaltensform der Hofleute fundiert. Ohne die bewußte Abweichung von der Wahrheit kann kein Scherz gelingen. "Wie dagegen die schönen, gut angelegten Lügen zum Lachen anregen, wißt Ihr alle." (183)

Und da knapp die Hälfte jenes Abends dem Thema des Lachens, Scherzens und Spottens gewidmet ist, kann man ermessen, wie sehr die Lüge als Ferment des geselligen Lebens willkommen war. Sie war nicht nur erlaubt, sie war erwünscht; denn ohne sie gab es die Wahrheit nicht. Das gilt auch noch in einem höheren Sinne: Ziel des Hofmannes war es, den Fürsten, dem er diente, zum guten Regieren zu veranlassen. Wollte er ihn gut beraten, dann durfte er sich nicht scheuen, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber die Wahrheit war nicht immer angenehm für den Fürsten, und wer sie ihm sagte, konnte leicht in Ungnade fallen. So kam es für den Hofmann darauf an, sich selbst so angenehm zu machen, daß er es sich erlauben konnte, mit der unangenehmen Wahrheit herauszurücken. Dazu war die Vielfalt seiner höfischen Künste, sein Geschick im Waffenhandwerk, in Gesang und Spiel, sein Witz und Wissen letztlich da. Durch schöne Künste und amüsante Lügen, durch Anmut und Lässigkeit - grazia und sprezzatura - sollte er den Fürsten gewissermaßen zur Wahrheit verführen; ganz analog zur neoplatonischen Kunsttheorie, nach der die Schönheit eines Kunstwerks keinen anderen Sinn hatte, als uns der Wahrheit näherzubringen. Der Hofmann war gewissermaßen ein Verhaltenskünstler, einer, der aus sich selbst ein Kunstwerk machte, und seine schönen Lügen dienten letztlich doch der Wahrheit.

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Zweihundert Jahre später wird es einem jungen Adligen, dem eine Karriere bei Hofe weit offensteht, nicht mehr gelingen, den Spott und Scherz, die Lüge und die Ironie, das ganze Maskenspiel bei Hofe, das sich inzwischen freilich auch verändert hatte, mitzumachen. Er legt seinen Adelstitel ab, wird ein Bürgerlicher und schreibt am Ende seines kurzen Lebens ein Buch, das auf das ganze 19. Jahrhundert Einfluß haben wird. Ein Buch Über den Umgang mit Menschen. Der Name des Autors ist Adolph Freiherr von Knigge, oder, wie er sich später selber nannte: der freie Herr Knigge.

Castiglione kam nach dem Urteil seiner Zeitgenossen dem Ideal des Hofmanns selbst sehr nahe. Er war ein erfolgreicher und geehrter Mann. Knigge ist, nach eigener Aussage, eine gescheiterte Existenz. Er hat in seinem Leben so ziemlich alles falsch gemacht - und eben deshalb fühlt er sich berufen, der Jugend zu sagen, wie sie es besser machen soll. Denn:" Habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben - desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin gesteckt hat?" (32)

Übrigens war Knigge ein Bewunderer Castigliones. Doch die Zeiten einer europaweit einheitlichen höfischen Kultur waren vorbei. Es kam jetzt darauf an, sich mit allen Menschen zu verständigen, mit den Menschen verschiedener Schichten, verschiedener Regionen, verschiedener Berufe, verschiedener Religionen. Mit dieser Mannigfaltigkeit mußte Knigge fertig werden, zumal sie, wie er schmerzlich empfand, in Deutschland soviel verwirrender war als anderswo. Die Nation war so zersplittert, daß es sie nur in den Köpfen gab. Das Buch Über den Umgang mit Menschen hatte unter anderem auch die Absicht, durch Vereinfachung und Vereinheitlichung des Verhaltens an der nationalen Einheit mitzuwirken. Knigge steht in einer Reihe mit den großen Aufklärern der deutschen Klassik, mit Lessing, Schiller und mit Kant. Der Imperativ ist seine Äußerungsform: "Sei selbständig!" (40)- "Sei pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in deinem Berufe!" (43) - "Interessiere dich für Andere!" (44) - "Lerne Widerspruch ertragen!" (53) - "Sei, was du bist, immer ganz und immer derselbe!" (68) - "Von deinen Grundsätzen gehe nie ab, solange du sie als richtig anerkennst!" (79) - "Habe immer ein gutes Gewissen!" (80) - "Sei lieber das kleinste Lämpchen, das einen dunklen Winkel mit eigenem Licht erleuchtet, als ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant eines Planeten!" (40)

Was sich hier unter der Knute des Imperativs aufbaut, ist ein bürgerliches Selbstbewußtsein. Knigge wertet das kleine Licht, mit dem der Bürger seinen dunklen Winkel erleuchtet, auf und erleichtert ihm den gewöhnlich unfreiwilligen Verzicht darauf, bei Hofe die Rolle eines "großen Mondes" zu spielen. Wovon aber nährte sich das kleine Licht? Was leuchtete im dunklen Winkel? Das Licht der Tugend. Es war das gute Gewissen, es waren Prinzipientreue und Verläßlichkeit des Bürgers, der zwar nur ein kleiner Mann war, aber dafür ganz er selbst. Es waren Aufrichtigkeit und Liebe zur Wahrheit:

"Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu halten,..., als die: unverbrüchlich, auch in den geringsten Kleinigkeiten, Wort zu halten, seiner Zusage treu, und stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden... Es gibt keine Notlügen; noch nie ist eine Unwahrheit gesprochen worden, die nicht früh oder spät nachteilige Folgen für jedermann gehabt hätte." (43)

Es gibt keine Notlügen - so steht es auch bei Kant. Es gibt nicht einmal die Lüge aus Barmherzigkeit:

"Ich saß einst an einer fremden Tafel, zwischen einer hübschen verständigen jungen Dame und einem kleinen, buckligen, garstigen Fräulein von etwa vierzig Jahren. Ich beging die Unhöflichkeit, die ganze Mahlzeit hindurch, mich nur mit jener zu unterhalten, zu dieser hingegen kein Wort zu reden. Beim Nachtische erst erinnerte ich mich meiner Unart; und nun machte ich den Fehler gegen die Höflichkeit durch einen anderen gegen die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gut. Ich wendete mich zu ihr und redete von einer Begebenheit, die vor zwanzig Jahren vorangegangen war. Sie wußte nichts davon. 'Es ist kein Wunder', sagte ich, 'Sie waren damals noch ein Kind.' Das kleine Wesen freute sich innigst darüber, daß ich sie für so jung hielte, und dies einzige Wort erwarb mir ihre günstige Meinung..." (46)

Und damit war der Abend gerettet, möchte man sagen. Das Gespräch mit der hübschen, jungen Dame war angenehm, und die garstige Alte ging trotzdem beglückt nach Hause. Aber nein, dieses auf die charmante Lüge gegründete Glück darf nicht sein. Knigge ist - wie übrigens sein ganzes Buch - voller Reue:

"Sie hätte mich dieser niedrigen Schmeichelei wegen verachten sollen! Wie leicht hätte ich einen Gegenstand zu einem Gespräche mit ihr finden können, das ihr auf irgendeine Weise interessant gewesen wäre! Und es war meine Pflicht, daran zu denken und ihr nicht einen ganzen Abend lang die Tür der Konversation zu verschließen. Jene elende Schmeichelei hingegen war eine unwürdige Art, den ersten Fehler zu verbessern." (46/47)

Von einer anderen Art, den Fehler zu verbessern ist hernach jedoch nicht mehr die Rede. Vielleicht gab es keine würdige Art, vielleicht gab es nur die Möglichkeit, ihn gar nicht erst zu machen. Am sichersten wäre er jedenfalls vermieden worden, wenn sowohl Knigge als auch die Garstige gar nicht erst erschienen wären. Wer sich nicht in Gesellschaft begibt, der braucht weder zu schmeicheln noch zu heucheln, noch kann er einen anderen durch schroffes, wennngleich ehrliches Verhalten verletzen. Den besten Umgang mit den Menschen pflegt man, wenn man sie umgeht. Das gilt ausdrücklich für die Gesellschaft bei Hofe - und so haben die Zeitgenossen ihren Knigge auch verstanden. Doch die verborgene Botschaft lautet: wenn du ehrlich und wahrhaftig bleiben willst, dann gehst du am besten gar nicht in Gesellschaft, es sei denn in die Gesellschaft von Unbekannten als Fremder in einer großen Stadt:

"Um angenehm zu leben, muß man fast immer ein Fremder unter den Leuten bleiben. Dann wird man geschont, geehrt, aufgesucht. - Deswegen ist das Leben in großen Städten so schön, wo man alle Tage andre Menschen sehen kann. Für einen Mann, der sonst nicht schüchtern ist, ist es ein Vergnügen, unter Unbekannten zu sitzen. Da hört man, was man sonst nicht hören würde, man wird nicht gehütet und kann in der Stille beobachten." (66)

Das also kommt dabei heraus, wenn man es so rigide mit der Wahrheit hält, daß alle Lügen, auch die schönen, aus der Welt verbannt sind. Der Hofmann Castiglione, der mit der Lüge leben konnte und sie als Gegenpol der Wahrheit guthieß, führt uns eine vergnügliche Abendgesellschaft vor, in der jeder den anderen respektiert und doch zugleich verspottet, neckt und sonstwie rhethorisch herausfordert. Der freie Herr Knigge läßt - wie alle Aufklärer - das Wahrheitspathos wuchern und hat am Ende statt einer wahren Gesellschaft nichts als eine ungesellige Wahrheit.

"Sei selbständig: was kümmert dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn du tust, was du sollst? Und was ist deine ganze Garderobe von äußern Tugenden wert, wenn du diesen Flitterputz nur über ein schwaches, niedriges Herz hängst, um in Gesellschaft damit Staat zu machen?" (40)

Was kümmert dich das Urteil der Welt, wenn du tust, was du sollst? - Knigges Form der Äußerung war der Imperativ. Der Inhalt dieser Form hieß: Pflicht.

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Für den moralischen Menschen des 18.Jahrhunderts war es keine Frage, daß er sich disziplinieren, sich in die Zucht nehmen, sich seinem freien Willen unterordnen und sich - im Zweifel zwischen Pflicht und Neigung - für die Pflicht entscheiden mußte. Dem psychologischen Menschen des 20.Jahrhunderts ist auch dieser Zwang suspekt. Der einstmals freie Wille ist in Verdacht geraten, abhängig zu sein, ferngesteuert vom ES, vom ÜBER-ICH, oder wie auch immer die Antriebs-, Kontroll- und Bremsvorrichtungen heißen, zu denen wir unsere Seele haben verkommen lassen. Aus der moralischen Wahrheit ist eine psychologische geworden, und die heißt: Ehrlichkeit.

Wir wollen nicht lügen, wie einst die Höflinge, wir wollen uns keinen Zwang antun, wie unsere bürgerlichen Väter - wir wollen ehrlich, unverstellt und echt sein. Seltsamerweise aber hat diese Ehrlichkeit sich nicht als so erfreulich erwiesen, wie wir es von ihr erwartet hatten. Der ehrliche Mensch, dem wir begegnen, langweilt uns mit psychologischen Selbstoffenbarungen oder sagt uns Wahrheiten auf den Kopf zu, deretwegen man sich in Zeiten, in denen man noch auf seine Ehre Wert legte, womöglich sogar duelliert hätte. Wir bemerken das unsere Grenzen verletzende solcher Offenheit freilich kaum noch, so wie uns ja auch die Nacktheit der anderen in der Sauna nicht mehr auffällt. Die höfische Lüge war ein buntes Kleid, die moralische Wahrheit immerhin noch ein Korsett, die psychologische Ehrlichkeit ist jenseits aller Mode. Sie hat mit den alten Formen gebrochen, nicht um sie durch neue und schönere zu ersetzen, sondern um eine langweilige Formlosigkeit zu hinterlassen.

Die Frage wäre, wie man dieser Formlosigkeit begegnen könnte. Die Antwort lautet: indem man sich des notwendigen Zusammenhangs von Form und Lüge, der für einen Baldesar Castiglione noch offenbar war, wieder erinnert. Jede Verhaltensform trägt ein Element der Künstlichkeit und damit auch der Lüge in sich, und sie sollte sich dazu bekennen. Was dabei herauskäme, wäre vielleicht ein spielerischer, ironischer, weil seiner Kunstnatur bewußter Formgebrauch. Es ist ja ohnehin kein Zufall, daß es immer die Jugend ist, die hergebrachte Formen als verlogen anprangert: wer eine Geste nicht gelernt, nicht eingeübt hat, sie noch nicht beherrscht, dem kommt sie unecht vor. Das ist sie auch. Nur liegt es nicht so sehr daran, daß ihr die Wahrheit fehlt, sondern vielmehr das Können, sprich: die Kunst.