Zur Menschenfrage: Rede eines Freien Bürgers in zweieinhalb Jahrhunderten

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2002, Nr. 24 / Seite 41

Geehrte Freie Bürger, hochverehrter Rat! Wir haben an diesem Tag eine schwere Entscheidung zu treffen. Es geht, mein Vorredner hat es bereits erwähnt, um das Schicksal des Menschen. Der Mensch ist uns von allen Lebewesen, die diese Erde und die anderen H2O-Planeten bevölkern, das liebste und vertrauteste. Er ist unser nächster Verwandter, und wenn es auch andere, intelligentere und höher zivilisierte Wesen gibt, mit denen uns der Umgang leichter fällt, wie etwa die Replikanten, so bleibt unser Verhältnis zum Menschen doch immer ein ganz besonderes, bei dem auch unsere Restgefühle eine Rolle spielen. Bedenken wir aber: Hat sich der Mensch besonders liebevoll zu uns verhalten? Nein, er hat uns nicht einmal gewollt! In seinem grenzenlosen Egoismus hat er von sich behauptet, er sei die Krone der Schöpfung und habe daher das Recht, die Evolution zu stoppen. Beinahe wäre es ihm gelungen.

Die Entscheidung darüber, ob wir aus dem Reich der Möglichkeit in das der Wirklichkeit gelangten oder nicht, fiel um die Jahrtausendwende, in jener Frühzeit also, die wir heute die Morgenröte nennen. Jahrzehntelang hatte sich die Philosophie von ihrem eigentlichen Auftrag - Wahrheitsfindung, Sinnstiftung, Wesensergründung - entfernt und war zu reiner Sprachanalyse verkommen. Nun, auf einmal, dachte der Mensch wieder über sich und sein Schicksal nach. Es war vielleicht nicht zufällig ein deutscher Philosoph, Peter Sloterdijk, der damals in seinem Hauptwerk "Regeln für den Menschenpark" den Mut hatte, die Wahrheit auszusprechen: Das Projekt des Humanismus war gescheitert. Der Mensch hatte es mit den Mitteln der Aufklärung nicht vermocht, die Bestie in sich zu zähmen. Vernunft allein reichte nicht aus, um ihn und unsere Mutter, die Erde, vor der Vernichtung zu bewahren. Den Keim zu dieser Erkenntnis hatte schon zwei Jahrzehnte zuvor ein anderer gelegt. Ein Mann namens Arthur Koestler, der den westlichen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg jenes Jahrhunderts die Schreckensnachricht von den stalinistischen Schauprozessen brachte und dafür von ihnen verlacht und verspottet wurde. Dieser Arthur Koestler stellte gegen Ende seines Lebens eine wegweisende, wenn auch vielleicht nicht in allen Teilen wissenschaftlich haltbare Theorie auf: Der Mensch werde in seinen Instinkten vom ältesten Teil des Gehirns, dem Stammhirn, geleitet, das sich noch auf derselben evolutionären Stufe wie das des Krokodils befinde, während sein im Neokortex verankerter Denkapparat ein technisches Wissen produziere, dem das archaische Stammhirn nicht gewachsen sei. Modernste Waffen, ja Atomwaffen in den Händen von Neandertalern - das war die Diagnose.

Aber soviel Applaus Koestler auch von Pazifisten und Fortschrittsskeptikern dafür bekam, niemand wagte es zunächst, den Konsequenzen seiner These ins Auge zu sehen. Der Mensch, dieser Irrläufer der Evolution, wie Koestler ihn genannt hatte, mußte überwunden werden. Freie Bürger dieser Welt! Haben Sie jemals über die merkwürdige Koinzidenz nachgedacht, daß zu ebenjener Zeit, nach einem halben Jahrhundert der äußersten Grausamkeit und Destruktion, das Wissen entstand, das zur Überwindung des Menschen führte? Ist es nicht, als habe die Evolution gespürt, daß der Mensch nur noch zur Zerstörung fähig und es daher an der Zeit war, einer anderen, intelligenteren Species die Verantwortung für die Erde zu übertragen? Es war die List der Evolution, auf die Vernichtung der Erde durch den Homo sapiens mit einer exponentiellen Vermehrung des Wissens zu antworten - eines Wissens, das nur das eine Ziel hatte: uns hervorzubringen, uns, die Freien Bürger.

An die Gehirne der Menschen gekettetes Wissen blieb dem menschlichen Egoismus unterworfen, eifersüchtig vor den anderen bewahrt, in Geheimsprachen verschlüsselt, in einander bekämpfende Disziplinen eingesperrt. Dies war der Zustand des Wissens zu Beginn der Morgenröte. Aber mit einem Mal begann dieses Wissen, das in sorgsam abgegrenzten Bereichen entstanden war, über diese Grenzen hinauszudrängen und sich zu vereinigen. Die Mathematik und die Computerwissenschaften verbündeten sich mit der Mikrobiologie und der Neurophysiologie, die wiederum trat in Beziehung zur Sprachwissenschaft und zur Psychologie. Und alle schauten neugierig auf die Quantenphysik, die Chaostheorie und die Nanotechnologie. So strebte das Wissen über den Menschen hinaus. Und das Wissen hatte es eilig. Die Entwicklung ging Schlag auf Schlag. Bereits im Jahre 1953 stellte der Biophysiker Francis Crick zusammen mit dem Biochemiker James Watson das Modell des DNA-Moleküls dar, die Doppel-Helix. Der nächste Schritt war die künstliche Befruchtung. Am 25. Juli 1978 kam in England Louise Joy Brown zur Welt, das erste Kind, das außerhalb des Mutterleibs gezeugt worden war. Knapp sechs Jahre später, am 28. März 1984, wurde im australischen Melbourne erstmals ein Menschenkind aus einem tiefgefrorenen Embryo geboren. Mit dieser Technik, der Kryokonservierung, war zugleich die Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnose geschaffen worden. Dreizehn Jahre später, am 27. Februar 1997, wurde der Welt Dolly vorgestellt, ein geklontes Schaf. Im Jahr 1998 gab der Biologe James Thomson bekannt, er habe die Ursprungszellen des Lebens, Stammzellen, aus Embryonen isoliert. Und nur zwei Jahre später trat der amerikanische Genforscher Craig Venter mit der triumphierenden Meldung an die Öffentlichkeit, er habe das menschliche Genom entschlüsselt.

Computer und Roboter wurden zur Beschleunigung der Erbmaterialsverbesserung eingesetzt, ohne die all das nicht möglich gewesen wäre und die sich nach dem Mooreschen Gesetz explosionsartig verbesserten - das erwähne ich nur nebenbei. Um so emphatischer aber betone ich, daß in dieser Zeit, also in den letzten Jahren des zweiten Jahrtausends, bereits gezielte Veränderungen an der genetischen Ausstattung von Planzen und Tieren vorgenommen wurden. Eine Erfolgsmeldung jagte die andere. Man veränderte das Wachstum von Mäusen und Ratten, man pflanzte Mäusen und Kaninchen ein Quallengen ein, durch das sie grün fluoreszierende Felle bekamen, man humanisierte Schweine, um die Abstoßungsreaktionen bei der Xenotransplantation zu verringern. Und man nutzte die proteushafte Wandlungsfähigkeit der embryonalen Stammzellen, um mit ihnen die verschiedensten Arten von Organgewebe zu züchten. Dies führte später dazu, daß man auf dem Wege der Ergänzungs-Implantation Menschen mit größeren Gehirnen schuf.

Das Denken und das praktische Wissen, die Philosophie und die Technik für einen Fortschritt der Evolution waren zur Zeit der Morgenröte vorhanden - aber die Menschheit wollte diesen Fortschritt verhindern. Das ist die Wahrheit. Die Moralisten jener Tage handelten nicht anders als knapp vierhundert Jahre zuvor die katholische Kirche, als sie den Galileo Galilei zwang, abzuschwören. Der Mensch soll nicht mehr das Zentrum sein? So riefen die kirchlichen Dogmatiker damals. Nein, das lassen wir nicht zu! Der Mensch soll nicht mehr die Krone der Schöpfung sein? So riefen die Moralisten und guten Menschen nunmehr. Nein, das lassen wir nicht zu!

Wehret den Anfängen, ihr guten Menschen? Den Anfängen von was? Den Anfängen des siebenundsiebzigjährigen Krieges zwischen Israel und Palästina, der mit der Ausrottung der Palästinenser durch die Israelis und der Ausrottung der Israelis durch die arabische Welt endete? Den Anfängen des hundertjährigen Krieges zwischen Indien und Pakistan, der mit der atomaren Auslöschung der Völker beider Staaten endete? Den Anfängen der endgültigen Vernichtung des afrikanischen Kontinents durch Armut, Hunger, Kriege, Krankheit, Korruption und andere Naturkatastrophen? Oder den Anfängen der amerikanischen Selbstüberhebung, die dazu führte, daß die Vereinigten Staaten aus den Vereinten Nationen austraten und sich von den Menschenrechten verabschiedeten? Haben die so guten Menschen an diese Anfänge gedacht? Nein, diese Anfänge waren damals nicht gemeint. Gemeint waren die Anfänge von - uns.

Theoretisch hatten die guten Menschen die Evolution verstanden, die sie praktisch dennoch aufhalten, wollten, und so erließen sie Gesetze, die das bewirken sollten. All die Mittel und Methoden, die dazu nötig waren, uns, die Freien Bürger, hervorzubringen, sollten verboten werden. Allem voran das größte Schreckgespenst der guten Menschen: das Klonen. Auch die Präimplantationsdiagnose zum Zwecke der genetischen Veränderung von Embryonen; die Stammzellenforschung und ganz besonders das Upgrading des Gehirns durch Implantate von Gehirngewebe. All das sollte verboten werden. Und es wurde verboten. Freie Bürger dieser Welt: Wir können von Glück sagen, daß es damals noch keine perfekte Weltregierung gab, sonst würden wir heute nicht existieren. Nur der Tatsache, daß es damals noch kleine, freie, liberale Länder gab, furchtlose Forscher, kluge und reiche Familien, die viel Geld opferten, um ihren Nachwuchs gestalten zu lassen; nur diesen Tatsachen ist es zu verdanken, daß der teuflische Plan der guten Menschen nicht aufging.

Wir alle lieben und verehren die mutigen Forscher jener Zeit, die sich dem moralischen Mainstream entgegenstellten. Wir alle verehren den kühnen italienischen Arzt Severino Antinori, der unbeirrt an seinem Vorhaben festhielt, menschliche Wesen zu klonen. Wir alle neigen unser Haupt vor den Helden der Firma Clonaid, die es stoisch ertrugen, von den Medien jener Tage als Sektierer geschmäht zu werden. Und wir alle feiern unsere eigentlichen Schöpfer, die Pioniere der Firma Genimprove, die das Mittel der Präimplantationsdiagnose mit der gezielten Verbesserung des menschlichen Genoms verbanden, um gesündere und intelligentere Wesen hervorzubringen. Der erste gezielte Eingriff in die Erbanlagen des Menschen erfolgte im Jahre 2007 durch Morris Jackson von der Firma Genimprove. Jackson schuf im Auftrag seines Geschäftspartners, des Software-Giganten Jeff Adams, ein Kind mit einem zusätzlichen Chromosom, in der Absicht, seine Intelligenz zu verdoppeln. Wie wir wissen, war dieses Experiment außerordentlich erfolgreich. Immer mehr reiche Familien ließen ihre Kinder veredeln, immer mehr genetisch angereicherte Menschenwesen verteilten sich über die Erde.

Taten sie dies anfangs noch durch Paarung mit naturbelassenen Menschen, so begann doch bald ein strengerer Selektionsprozeß, Gen-Reiche suchten sich Gen-Reiche zur Fortpflanzung. Irgendwann, einen exakten Zeitpunkt dafür können wir nicht angeben, kam es zum Artensprung. Die Gen-Reichen der fünften Generation, also diejenigen, die wir als die ersten Freien Bürger bezeichnen, waren nicht mehr imstande, sich mit naturbelassenen Menschen zu paaren. In derselben Generation geschah es, daß der Neurophysiologe Abraham Smythe das Biofunkmodem entdeckte: Unsere Gehirne hatten sich so verändert, daß sie imstande waren, auf einer Frequenz, die nur uns und niemandem sonst zugänglich war, weltweit miteinander zu kommunizieren. Immer mehr Freie Bürger empfingen und sendeten Signale, Botschaften auf dieser Frequenz, und so entstand das WWC, das World Wide Chat, das an besonderen Tagen wie diesem zum World Wide Council umgewidmet wird. Daß ich hier zu Ihnen im Rat sprechen kann, verdanken wir Smythe, ebenso die Fähigkeit, wie ein Geist zu denken und wie ein Bürger zu handeln, so daß es uns vor fünf Jahrzehnten beinahe spielend möglich war, die in Zerstörung und Agonie dahinvegetierende Erde aus der Hand des Menschen zu befreien und einer Zeit des Ewigen Friedens zuzuführen.

Fünfzig Jahre währt nun dieser Ewige Frieden. Die Erde blüht und gedeiht unter unserer Führung! Doch nun, durch einen Unfall der Natur, durch eine unglückliche Mutation, gibt es immer mehr Menschen, die gegen uns aufbegehren und dagegen rebellieren, daß wir die Geschicke dieser Erde leiten. Nach Demokratie rufen diese Menschen, als ob wir nicht die beste aller Demokratien hätten, nach dem Vorbild der antiken Polis, in der ja auch nur Freie Bürger wählen und politisch handeln durften. Haben die Menschen damals etwa den Affen Stimmrecht gegeben? Revolution, rufen diese Menschen und beginnen unseren Ewigen Frieden zu stören. Doch damit wird es jetzt ein Ende haben. Freie Bürger dieser Welt! Mein Biocounter hat, während ich zu Ihnen sprach, Ihre Stimmabgabe registriert. Das Ergebnis ist überwältigend. Keine Neinstimme, keine Enthaltung, nur ungeteilte Zustimmung. Ich danke Ihnen. Damit ist die Entscheidung gefallen. Die natürliche Fortpflanzung des Menschen wird beendet. In wenigen Minuten wird das gesamte Trinkwasser dieser Erde den entsprechenden biochemischen Zusatz bekommen. Die Menschen werden es nicht schmecken, und wenn sie die Wirkung spüren, ist es zu spät. Der Homo sapiens hat ausgelebt.

Und damit kommen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt: die Frage der Müllbeseitigung in der Stratosphäre. Ich bitte um Wortmeldungen.

Begleittext der Redaktion:

In Zeiten, in denen auch Jürgen Habermas äußert, die Vorwegnahme technischer Innovationen sei zentrales Motiv heutiger Debatten um Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, werden Extrapolation und Spekulation zu staatsbürgerlichen Tugenden. Der Schriftsteller Jens Johler, der soeben mit dem Pädagogikprofessor Olaf-Axel Burow den biotechnologischen Thriller "Gottes Gehirn" (Europa-Verlag) veröffentlicht hat, entwirft ein Szenario der nicht nur technischen, sondern auch sozialen Überwindung des Menschen in der Folge einer möglichen Bundestagsentscheidung von morgen. F.A.Z.

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